Zuckerwatte

Lobbyismus, Utopie und Savoir-vivre

Jede Lobby hat ihr ganz eigenes System von Öffnung und Schließung, von Ein- und Ausgangsritual, von Zeremoniell. Dieses System funktioniert wie eine unsichtbare Barriere. Dabei passt sich die Lobby ganz dem jeweiligen gesellschaftlichen, visuellen, monetären oder politischen Gestus des Hotels an. In der Serie Land und Lobby (Ein Hotelführer der Gegenwart) besucht der Berliner Journalist Johannes Hertwig (*1984) verschiedene Hotellobbys und geht der Frage nach, in wie weit diese exemplarisch für das Gefühl unserer Gegenwart stehen.

»Then after the show, it`s the after party / and after the party, it`s the hotel lobby …«
(R. Kelly)

Land und Lobby (Ein Hotelführer der Gegenwart)
Teil 1: Raum im Raum.

Vorüberlegungen zu einem neuen Lobbyismus.

Der erste Gedanke ist – nichts. Die Lobby eines Hotels ist vor allem ein Durchgangsort auf dem Weg zur Rezeption. Man holt dort einen Schlüssel oder eine Türkarte. Man wartet dort auf jemanden, der dort einen Schlüssel oder eine Türkarte hat. Man sucht nach einem Weg, zu einem Schlüssel oder einer Türkarte zu kommen. Oder irgendetwas Außergewöhnliches passiert in den Räumen, zu denen die Schlüssel oder Türkarten führen. All diese Abenteuer und Absurditäten, Tristesse und Teilnahmslosigkeit, Savoir-vivre und Sex hallen in der Lobby lediglich nach.

Die Lobby ist am angenehmsten, wenn die Rezeption keine Rolle spielt und sie zum losgelösten Zwischen-Raum wird. Sie ist mitnichten überhaupt ein »Raum«, in ihrer Anlage eher vergleichbar dem Raumgefühl eines ICE. Die Außenwelt ist da, immer. Sie zieht vorbei, wie sie das in Zügen ebenso tut. Familien fahren zum Baden ans Mittelmeer. Menschen ertrinken im Mittelmeer. Aber all das liegt hinter einer semi-permeablen Membran.

Lobbies sind, wie auch Züge, Heterotopien. »[W]irkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«, weiß Michel Foucault, den man wirklich immer zitieren kann.

Die Lobby ist aber nicht nur eine Schnittstelle im Raum, sondern auch in der Zeit. Wenn ihre Verortung im Sinne Marc Augés als Nicht-Raum charakterisiert ist, dann folgt die zeitliche Charakteristik dem allgegenwärtigen Shuffle-Prinzip. »Das Durcheinandergeraten der Zeit, das Ineinanderfließen verschiedener Zeiten ist [heutzutage] keiner Erwähnung mehr wert; es hat sich so verallgemeinert, dass wir es nicht einmal mehr bemerken«, schreibt Mark Fischer in Gespenster meines Lebens und erweitert damit die Entzeitlichung von Musik-Playlisten auf andere Kulturbereiche. Im Fall der Lobby gilt dieses Prinzip auch für Räume. Denn was in der Kultur mitunter als gesichtslos oder austauschbar kritisiert werden kann, ist für die Lobby das Ziel: ein teflonartiges Amalgam aus space und Epochen, in dem Echos anderer Zeiten höchstens nachklingen, aber nie präsent sind oder stören. Die Lobby ist ebenso viel Gespenst wie ihre Besucher. Sie will nichts verändern oder revolutionieren, sie will nur sein.

Das prägt auch ihren mindstate. Der Zwischen-Raum zwischen den wirklichen, durch Architektur getrennten Räumen in und außerhalb des Hotels ist On-The-Go-Space. Alles ist Durchgang. Nichts muss bleiben. Ein Ruhepool außerhalb des Alltags-Raums, in dem man von der Norm abweichen darf, der zugleich verankert aber auch vollständig internationalisiert und entwurzelt ist.

 

 

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In loser Abfolge werden auf LÜCKE künftig weitere Teile von Land und Lobby (Ein Hotelführer der Gegenwart) erscheinen.
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