Positionen

Der Mensch ist im Käfig seiner Wahrnehmung gefangen

Für den Band Die Auswandernden, der gerade bei starfruit publications erscheint, hat Nanne Meyer (*1953) viele wundersame Zeichnungen und Collagen angefertigt. Im Gespräch mit LÜCKE erzählt sie von Zwischenräumen, Übergängen und der Entlastung der Dinge.

LÜCKE Wenn Sie morgen mit dem Zeichnen aufhören würden: was würden Sie stattdessen machen?

Nanne Meyer Übermorgen wieder anfangen.

LÜCKE In Ihren Texten über das Zeichnen schreiben Sie, dass die Welt voll ist, »voll von tausendfach gesehenen Bildern, die das Leben vorzeichnen«. Trotzdem scheinen Sie prinzipiell an das Neue zu glauben. Muss das Neue erschaffen und hinzugefügt werden, oder ist es immer schon da, aber verschüttet vom Überfluss?

Nanne Meyer Das Neue ist für mich gar keine Kategorie, und es ist notwendigerweise ja auch nicht Weg weisend, oder Erkenntnis stiftend. Das Neue kann ich auch nicht absichtsvoll erschaffen, oder hinzufügen. Wenn überhaupt, stellt sich für mich etwas Neues eher durch Zufall, durch die Hintertür, oder auf Umwegen ein. Durch Offenheit und Beweglichkeit versuche ich mir Zugänge zu öffnen, die ein anderes Wahrnehmen und Sehen ermöglichen als das, was durch Gewohnheiten und Konventionen eingerastet oder trübe geworden ist. Dazu gehören auch das Staunen über das scheinbar Selbstverständliche und das Aufstöbern von Randerscheinungen, also eine erhöhte Sensibilität für das, was nicht spektakulär ist und eher übersehen wird.

LÜCKE Die Auswandernden schafft für mich genau diese mentale Weitung: ein anderes Wahrnehmen und Sehen wird möglich; auch dadurch, dass der Roman von Peter Waterhouse mit Ihren Zeichnungen korrespondiert und die mentale Weitung durch dieses Wechselspiel immer weiter getrieben wird. Als Leser und Betrachter öffnet man sich für kleinste Nuancen, Beobachtungen, Wechsel. Auf vielen Ebenen von Die Auswandernden geht es um Übergänge, Übersetzungen. War das bei der Arbeit an dem Buch ein zentrales Motiv für Sie?

Nanne Meyer Zeichnen ist ja immer ein Übersetzungsvorgang: vom Begriff ins Bild, vom Dreidimensionalen ins Zweidimensionale, von der gesehenen Wirklichkeit in Liniengebilde usw. Wenn Ahnungen, Vorstellungen und Empfindungen in der Zeichnung eine Form finden, so sind das immer auch Übersetzungen von etwas Diffusem oder zunächst nicht Sichtbarem in etwas Sichtbares. Nun hatte ich ja mit einem Text zu tun, der eigentlich keine Bilder braucht, in dem unablässig Fragen gestellt werden und in dem über die Macht, die Poesie und Eigentümlichkeiten von Worten nachgedacht wird. Da sitzt man dann zwischen den Stühlen, die Worte sind, und versucht die Zwischenräume in die Sichtbarkeit zu zeichnen, die man auch Übergänge nennen kann.

 

Nanne Meyer: Die Auwandernden

Nanne Meyer: Die Auwandernden


LÜCKE
Ihre Suche und Ihr Versuch, dem Diffusen, den Ahnungen und Empfindungen einen Ausdruck zu verleihen, nimmt in Die Auswandernden ganz unterschiedliche Formen an: Collagen, Bleistift- und Buntstiftzeichnungen; Konkretes, Kryptisches; Abstraktes, Erklärendes; stets kombiniert oder unterfüttert mit Worten und Satzteilen aus Peter Waterhouses Text. Sind Ihre Bilder im besten Fall Erklärungen für das, was Sie diffus spüren oder ahnen? Oder sind sie ein möglicher Ausdruck (oder Spiegel) des Mysteriums, des Diffusen?

Nanne Meyer Meine Zeichnungen sind weder Ausdruck eines Mysteriums, noch wollen sie etwas erklären. Es geht mir eher um eine präzise Reibung zwischen den Textfragmenten und dem, was die Zeichnungen zeigen, sodass beim Betrachten etwas Drittes entstehen kann, eine Erweiterung, die vielleicht jenseits von Sprache ist, einhergehend mit einer »Grundierung des Empfindens«, als Absurdität, Traurigkeit, Ratlosigkeit, Humor usw. Ich möchte also nicht nur das rationale Verstehen ansprechen, das Unvereinbarkeiten auflöst, sondern ein Denken in Gang setzen, das sucht und fragt. Außerdem ist Wortsprachliches in meinen Zeichnungen nicht als »Unterfütterung« zu verstehen, sondern es spielt eine aktive und wesentliche Rolle als Zündfunken, Akteur und Widersacher im Prozess des Zeichnens und im komplexen Beziehungsgefüge von Wort und Bild.

LÜCKE Empfinden Sie als Künstlerin eine gesellschaftliche Verantwortung?

Nanne Meyer Ich empfinde eine gesellschaftliche Verantwortung als Mensch. Ob ich ihr gerecht werde, weiß ich nicht.

LÜCKE Wenn Sie sagen, dass Sie sich an ein Verstehen wenden, das nicht nur rational ist, und mit Ihren Zeichnungen ein suchendes und fragendes Denken in Gang setzen möchten: Das klingt für mich nach einem Ansatz, der über Sie hinausgeht. Das impliziert zwar nicht direkt Verantwortung, aber zumindest ein (gesellschaftliches) Anliegen. Oder nicht?

Nanne Meyer Gerade weil jeder Mensch begrenzt und im Käfig seiner eigenen Wahrnehmung gefangen ist, gibt es das Bedürfnis, den Käfig weiter und durchlässiger zu machen, um die Welt umfassender zu begreifen und wenn es denn gelingt, sogar über sich hinauszugehen. Zeichnen ist meine Möglichkeit, mich mit der Welt zu verbinden. Dabei denke ich zunächst nicht an irgendeinen Nutzen, sondern lasse mich auf einen Prozess ein mit unbekanntem Ausgang. Vielleicht ist schon allein das in unserer von Effizienz und vom Kosten-Nutzen-Denken bestimmten Wirklichkeit eine Haltung, die ein notwendiges Gegengewicht einbringt. »Nichts ist unnütz, nicht einmal das Unnütze«, hat bereits Montaigne vor 450 Jahren gesagt. Durch die Hintertür erweist sich das vermeintlich Unnütze oft genug als nützlich. Und wenn es gelingt, gibt es ein Echo.

 

Nanne Meyer: Die Auswandernden

Nanne Meyer: Die Auswandernden


LÜCKE
Glauben Sie, dass Lücken unabdingbar für die Weltgeschichte sind?

Nanne Meyer Lücken sind notwendiger Teil der Welt und damit auch ihrer Geschichte. Lücken sind klein, kleiner als Löcher, sie verweisen meistens auf ein Fehlen von etwas im Gesamtgefüge. Dieses Fehlen gibt Raum, Durchschlupf, Öffnungen, Einblicke usw. und ermöglicht neue Einsichten, Spekulationen und Fragen. Das Ganze besteht aus Teilen, die Lücken dazwischen ermöglichen deren Unterscheidbarkeit und Ausdifferenzierung. Lücken können beides sein, Abstandshalter und blinde Flecken. Viel schöner hat das John Cage gesagt: »Each something is the celebration of the nothing, that supports it«, und noch wieder anders Ludwig Gosewitz: »Alles ist auch nur da, damit das, was nicht da ist, entlastet wird.«

LÜCKE Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

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Das Interview führte Joshua Groß. Seine Überlegungen zu Die Auswandernden können sie hier lesen.
Webseite von Nanne Meyer.
Alle Abbildungen © Nanne Meyer.
Die Auswandernden von Peter Waterhouse und Nanne Meyer kann man hier bestellen.

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