Diskurs

Archivarischer Fieberwahn und Netz-Melancholie

Wer ist Jon Rafman? Was macht er so? Was hat es damit auf sich? Eine Annäherung von Olympia Contopidis (*1995).

Jon Rafman ist ein stiller, nostalgischer Beobachter unserer Entwicklungen in und mit dem Internet. Still meint zurückhaltend, ethnologisch, forschend. Von GaleristInnen wird er gerne in die Kategorie »Post-Internet Künstler« gesteckt. Was genau das überhaupt bedeutet, wird sehr unterschiedlich aufgefasst; beispielsweise meint die Künstlerin und Autorin Jennifer Chan, Post-Internet Kunst könne als philosophische Übersetzung von Onlinekultur und -methodik in die materielle Welt gelesen werden. Sie zelebriere, kritisiere und mokiere sich über die Rolle des Internets in unserem Alltag. Rafman scheint aber nicht zu zelebrieren, zu kritisieren oder sich lustig zu machen, sondern eben nur stiller Betrachter zu sein. Fast als würde er wie ein Anthropologe das Verhalten der Menschen im Netz untersuchen: »I think we have reached a point now, my generation, where we don’t even know whether we are celebrating something, and saying it is great and affirming it, or if we are engaging in an ironic critique and mocking it. We have almost collapsed the two.«

In seiner Trilogie Still Life (Betamale) (2013), Mainsqueeze (2014), und Erysichthon (2015) visualisiert und dokumentiert Rafman Fetische und Strömungen aus den zwielichtig erscheinenden Tiefen des Internets. Er zeigt Sehnsüchte und Begierden, die wir im und mit dem Internet stillen wollen. Das Internet unterwandert permanent unsere Persönlichkeitspanzer: es suggeriert scheinbar unendliche Freiheit, ohne dass wir das Gefühl haben, wirklich beobachtet oder verurteilt zu werden; es fordert uns heraus zu immer neuen moralischen und ethischen Grenzüberschreitungen.
Auch in der Post Snowden-Ära, in der wir leben und eigentlich wissen, dass wir potenziell immer überwacht werden, dass sich unser digitaler Fingerabdruck dauerhaft in unsere Identität einbrennt, hat sich an diesem Freiheitsgefühl nicht viel geändert. Oder vielleicht haben sich auch einfach nur verschiedene Lager gebildet: das derer, die das Internet noch prä-NSA erlebt haben, nun traumatisiert sind und einen Verfolgungswahn entwickelt haben; die, die sowieso schon fast alles teilen und die das Ganze gar nicht mehr tangiert hat, die mit der »ich habe ja nichts zu verbergen«-Einstellung; und die, die sich einen Tarnumhang gebastelt haben und durch technisches Know-How ihre Identität weiterhin zu Genüge verschleiern können, jeden ihrer digitalen Schritte über hunderte Server unverfolgbar machen.

»We are anonymous, anonymous is legion, anonymous does not forgive, anonymous does not forget, there are no rules about posting.« (aus: The main rules of the Internet, die mittlerweile wie ein illusorisches, fossiles Netzfundstück wirken.)

In Still Life (Betamale) leitet ein Intro in pixeliger Retro-Videospiel-Ästhetik eine Reihe von Stillleben ein, die – mehr oder weniger explizit – ekelerregende Rigs (hochgerüstete Geek-Höhlen) zeigen; sie implizieren, dass ihre Nutzer den größeren Teil ihres Daseins vor den Bildschirmen verbringen, die eine weibliche Stimme aus dem Off als »entrance to eternity« beschwört. Es folgt eine Schnittfolge von Hentai (magisch-überzogen) und Webcam Performances (flauschig-sexy), darüber liegt ein hypnotischer Soundtrack. Das Video erzeugt einen Sog, der uns in die Tiefen des Internets zieht.

Rafman versucht in einer Art archivarischem Fieberwahn, getrieben von Melancholie, Gefühle und Erfahrungen in seiner Kunst festzuhalten. Er spiegelt uns damit inhärente Verlustängste, verursacht durch eine sich unaufhörlich steigernde Kurzweiligkeit, im immerwährenden Strom von Eindrücken und Informationen, wider. Mit wehmütigem Blick romantisiert Rafman Phänomene, Strukturen, Webseiten und Memes, die schon fast wieder obsolet geworden sind. Das Internet, das wie ein nicht endender Stream an Dauergegenwart wirkt, wird von Rafman historisiert – all seine Sedimentschichten werden ästhetisch untersucht. Das kollektive Gedächtnis wird angeregt, unterfüttert, fast vergessene Traum-Inceptions werden in den Ablagerungen des Bewusstseins freigelegt.

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aus: Jon Rafman, Nine Eyes, 2009 – andauernd

 

Google’s Mission »to organize the world’s information and make it universally accessible and useful« liegt ebenfalls ein archivarischer Gedanke zu Grunde. Die objektive Sammlung der Suchmaschine steht jedoch dem subjektiven Archiv des Künstlers gegenüber, der den Human Gaze in die unendlichen Informationsweiten schweifen lässt. In seinem Projekt Nine Eyes (2009 – andauernd), mit dem er erstmals bekannt wurde, macht sich Rafman die neun Kameras zu Nutze, die auf Google-Autos montiert die Welt dokumentieren. Es ist dieser automatisierte, scheinbar objektive Blick auf die Umgebung, der die gefundenen Bilder zu einem logischen Teil von Rafmans Gesamtwerk macht; er begibt sich auf stundenlange Exkursionen durch Google Street View, auf der Suche nach Abweichungen: Abweichungen von der angestrebten Sachlichkeit. Unabsichtlich dokumentieren die Google-Kameras Szenen von Gewalt, Verbrechen und Armut. Oder sie fangen Momente ein, die eine zufällige Erhabenheit ausstrahlen, wenn beispielsweise ein Tiger über den Parkplatz eines sibirischen Supermarkts läuft. Die Abfolge der Bilder auf Rafmans Blog hat einen merkwürdigen Beigeschmack; ein menschliches Element ist enthalten, es ist das zehnte Augenpaar, die Augen des Künstlers.

Rafmans Werk begleitet, reflektiert und verdeutlicht symptomatisch den Wandel, den das Internet verursacht: kulturgeschichtlich, rezeptionsästhetisch, gesellschaftlich, rechtlich, etc.  »Information wants to be free« – einmal digitalisiert und online gestellt, werden Dateien unaufhaltsam gedownloaded, manipuliert, reposted, recyclet, etc. Eine unendliche Rezeptionskette, die ein traditionelles Urheberrecht nicht mehr einzudämmen vermag. Gibt es überhaupt noch einen Unterschied zwischen dem Abspeichern von Netzinhalten, anthropologischer Arbeit und künstlerischer Vision? Rafman antwortet: »I feel like for my Generation, this distinction between high and low art or culture is pretty much dissipated. I don’t think anybody could claim anymore that this is culture and this is not culture.«

 

 

 

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Olympia Contopidis lebt in Nürnberg und studiert Kunstgeschichte und Anglistik. Sie ist Werksstudentin im Institut für moderne Kunst und blogt auf O/C.

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Dieser Beitrag wurde von der Redaktion veröffentlicht.

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