Nach dem Ultraromantik Manifest stellt Leonhard Hieronymi (*1987) literarische, musikalische und filmische Werke vor, die als Erbmasse der Ultraromantik bezeichnet werden können.
Die in dieser zweiteiligen Liste genannten Werke sind keine Werke der Ultraromantik. Aber sobald die Ultraromantik da ist, wird man sagen: Das ist doch ein ultraromantisches Werk!? – Ist es aber nicht, wirklich. Die aufgelisteten Texte, Alben und Filme sind nur geistige Mütter und Väter; sie sind geistige Verwandte der Ultraromantik.
Ich gehe den gleichen Schritt, den Borges gegangen ist, als er in seinem Essay Kafka und seine Vorläufer Werke auflistete, die das Kafkaeske enthalten, aber vor Kafka entstanden waren. Nur gehe ich diesen Schritt, bevor es die Ultraromantik überhaupt gibt.
Die beiden Listen enthalten Werke, aus denen sich die Ultraromantik speisen könnte: Sie sind sozusagen der intermediale Baukasten der Ultraromantik.
Anhand der Master- & Ultralist lässt sich auch erkennen, dass die Theorie der Ultraromantik auf drei römischen Bestiensäulen steht: Sie beruht auf der elektronischen Musik der 70er und 90er Jahre (Ambient und Techno), der amerikanischen Popkultur der 80er Jahre, und, wie in der Erklärung zur Ultraromantik bereits ausführlich erwähnt: Auf der dystopischen deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Sie basiert also nicht unbedingt auf der romantischen Epoche, sondern vielmehr auf dem Romantischen.
Die Masterlist enthält acht Werke, deren ultraromantischer Charakter kurz beschrieben wird. Die Ultralist enthält, neben den Werken der Masterlist, mehrere Dutzend Werke, die zwar exemplarisch für die Ultraromantik sind, aber vielleicht nicht immer für sich selbst sprechen können. Wir werden lernen müssen, ihnen eine Sprache zu geben.
Masterlist
1
Blade Runner (1982)
Die im Sinne der Ultraromantik ultraromantischsten Worte überhaupt stammen von Roy Batty, einer außerirdischen Figur im Film Blade Runner. Während er im Jahr 2019 auf dem Dach eines Hochhauses in Los Angeles stirbt, erzählt er von Dingen, die sich die Menschheit nicht vorstellen kann, aber vorstellen muss. Diese Worte werden in der Filmwissenschaft manchmal als The C-Beams Speech, manchmal als Tears in Rain bezeichnet:
I’ve seen things you people wouldn’t believe.
Attack ships on fire off the shoulder of Orion.
I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser gate.
All those moments will be lost in time… like tears in rain… Time to die.
Romantische Sehnsucht, Sternenkriege, Schönheit, Tod und Unendlichkeit erscheinen in diesen Sätzen in konzisester Form nebeneinander. Sie beinhalten alles, was die Ultraromantik ausmachen könnte.
2
The Enchanter Persuaded (2006)
The Enchanter Persuaded ist ein musikalisches Werk des US-amerikanischen Komponisten Sinoia Caves. Caves greift die Soundvariationen des griechischen Dark-Ambient-Musikers Vangelis auf und ist damit die radikale Antwort auf Synthwave und Retro Electro.
Über den wenig bekannten Künstler Cave ist auch wenig zu sagen. Vor allem die Datei »robots.txt« stört das Aufrufen der Website, die mehr Informationen über Caves bereithalten würde.
Sein wichtigstes Stück jedenfalls ist Run Program: Sentionauts vom Soundtrack des Films Beyond The Black Rainbow. Außerdem kenne ich jemanden, der beim Hören seines Liedes Forever Dilating Eye eine Kurzgeschichte geschrieben hat. Nie wieder habe ich einen solchen Text gelesen.
3
Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang (1977)
Maljanow, die Hauptfigur dieses Romans der Brüder Arkadi & Boris Strugatzki, sitzt in einer Plattenbauwohnung im hochsommerlichen Leningrad und steht mit seiner Arbeit Die Wechselwirkung der Sterne und der diffusen Materie kurz vor der Vollendung und damit vor einer revolutionären Entdeckung. Er wird jedoch von einer außerirdischen Macht davon abgehalten, seine Forschungen zu beenden und muss ins Pamirgebirge fliehen, um mit seiner Arbeit fortfahren zu können.
Was diesen Roman vor allem ausmacht, das ist die Atmosphäre: Die Treppenhäuser im Plattenbau; die Höhe; die Hitze; die Sowjetunion in den Siebzigern und alles, was man mit ihr assoziiert; und zu guter Letzt: Die spürbare Unaufhaltsamkeit des menschlichen Forschungsdrangs. All das kommt hier zusammen und wirkt ekstatisch.
4
E.T. the Extra-Terrestrial (1982)
Dieser Science-Fiction Film von Steven Spielberg ist ganz eindeutig und ohne Zweifel als ein Werk anzusehen, das Science-Fiction mit romantischen Motiven verbindet. Es ist anzunehmen, dass man diesen Film sogar dann als ultraromantisch bezeichnen würde, wenn man das Manifest der Ultraromantik nicht kennt.
5
The Wild Blue Yonder (2005)
Es gibt in Werner Herzogs Werken sehr viele romantische und brutal stilisierte Motive. Mindestens zwei große Merkmale der Ultraromantik lassen sich also dort finden. Vor allem aber The Wild Blue Yonder beinhaltet, auf einer sehr seltsamen und anmutigen Ebene, die Hauptthemen der Ultraromantik: Geheimnisse und Wahnsinn, Abenteuer, Schnelligkeit, Natur, Fremdheit und Poesie.
6
Upstream Color (2013)
Upstream Color macht der Ultraromantik einen Vorschlag in Sachen Erzähltempo: Lineares Erzählen kommt zwar vor, ist aber bis zur Unkenntlichkeit beschleunigt und verzerrt. Es handelt sich um eine Highspeed-Filmnovelle, die eine formale Vorlage für ultraromantische Texte sein könnte. Vielleicht ist die Novelle auch die erzählerische Gattung der Ultraromantik.
7
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008)
Christian Krachts Roman steht nicht nur am Anfang des Dystopie-Hypes in der deutschsprachigen Literatur, sondern ist seltsamerweise auch dessen stilistischer und formvollendeter Höhepunkt. Es ist vielleicht das literarische Hauptwerk der Übergangsphase zur Ultraromantik. Die Hauptfigur, die sich in einem Prozess der unaufhörlichen Bewegung befindet, ist das beste Beispiel für einen Commuter (Figur der Dystopie), der sich zu einem Profectus (Figur der Ultraromantik) hin entwickelt.
Natürlich ist dieses Buch im Sinne einer schwarzen Romantik zu lesen, aber die Ultraromantik unterscheidet nicht zwischen den epocheninternen Divergenzen der Romantik, sondern kennt alles aus dieser Zeit nur als das Romantische.
Übernatürliche und mysteriöse Erscheinungen wie die Aurotherapie (Goldsalzinjektionen); das Verzehren von Psilocybinen, die aus den Tiefen des Kosmos mit Hilfe von Asteroiden auf die Erde kamen (und beim Erlernen neuer Sprachen helfen); oder die Theorie der Doomsdaymaschine: All das sind klare ultraromantische Elemente.
8
Donnie Darko (2001)
Die große Science-Fiction-Phase der amerikanischen Popkultur (zweite Bestiensäule) wirkte 2001 noch nach. Aber Donnie Darko ist der direkt ins neue Jahrtausend eingreifende und um vielfache Ebenen erweiterte amerikanische Science-Fiction Blockbuster. Dieser Film ist die Erbmasse aller Weltuntergangsfantasien der dritten Säule (und dritten Kunstform), der jungen dystopischen Literatur. Die Hauptfigur des Films ist trotz seiner Probleme ein drängender Erneuerer und Forscher. Anders aber als in Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang wird er vom Schwarzen Loch geschluckt.
Ultralist
1970: Popol Vuh – Affenstunde
1971: Werner Herzog – Fata Morgana
1972: Arno Schmidt – Die Schule der Atheisten
1972: David Bowie – The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars
1975: Manuel Göttsching – Inventions For Electric Guitar
1976: Ash Ra – New Age of Earth
1977: Ernst Jünger – Eumeswil
1977: George Lucas – Star Wars
1977: Arkadi & Boris Strugatzki – Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang
1980: Irvin Kershner – The Empire Strikes Back
1982: Ridley Scott – Blade Runner
1982: Steven Spielberg – E.T.
1983: Brian Eno – Apollo
1984: Ivan Reitman – Ghostbusters
1984: James Cameron – The Terminator
1985: Robert Zemeckis – Back to the Future
1988: Eckhard Henscheid – Maria Schnee: eine Idylle
1989: Brian Eno – Textures
1991: WestBam – A Practising Maniac at Work
1992: Werner Herzog – Lessons of Darkness
1994: Der Dritte Raum – Dr. DNA – Heliomorph
1995: Astral Pilot – Electro Acupuncture
1996: David Forster Wallace – Infinite Jest
1996: Roberto Bolaño – Die Naziliteratur in Amerika
2000: Michel Faber – Under the Skin
2001: William Basinski – Disintegration Loop 1.1
2001: Richard Kelly – Donnie Darko
2002: Tatsuhiko Takimoto – NHK ni Yōkoso!
2004: Shane Carruth – Primer
2004: Gregg Araki – Mysterious Skin
2005: Werner Herzog – The Wild Blue Yonder
2006: Sinoia Caves – The Enchanter Persuaded
2008: Christian Kracht – Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
2009: Hope Sandoval – Through the Devil Softly
2010: Oneothrix Point Never – Returnal
2011: Jan Brandt – Gegen die Welt
2012: Rick Alverson – The Comedy
2012: Clemens J. Setz – Indigo
2013: Jonathan Glazer – Under the Skin
2013: Roman Ehrlich – Das kalte Jahr
2013: Shane Carruth – Upstream Color
2014: Jakob Nolte – Alff
2014: Ta-Ha – Tuareg Shawty
2015: Valerie Fritsch – Winters Garten
2015: Leif Randt – Planet Magnon
2015: George Miller – Mad Max: Fury Road
2016: Nis-Momme Stockmann – Der Fuchs
2016: Jackie Lynn – Jackie Lynn
2016: Matt & Ross Duffer – Stranger Things
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Leonhard Hieronymi (*1987), lebt in Hamburg. Studium der Informatik, Philosophie und Deutschen Literatur in Offenburg, Wien, Berlin und Mainz. Er schreibt Science-Fiction unter dem Pseudonym Jakob Fries und veranstaltet alle zwei Monate die Literatursendung Ist das noch Literatur? zusammen mit dem Korbinian Verlag.