In der Ähnlichkeit von Selfies und Pyramiden offenbart sich die Angst davor, vergessen zu werden. LÜCKE präsentiert einen Auszug aus Tobias Roth Essayband Vorratsdatenruinen, Band 02 der Reihe unendlich unwahrscheinlich.
*****
Im Gedankenexperiment einer memoria, das ich mir selbst gönne, wohl hoffentlich gewürzt mit einer Prise fama oder gloria, fallen Selfie und Pyramide zusammen. Die Art und Weise, in der ich erinnere, und in der ich mich selbst sehe, verschmelzen in der Art und Weise, in der ich mich erinnert sehen will. Die Selbstsorge, die Bemühung und Gestaltung der Lebensführung gehen auf in diesem Futur II. Wir wissen und wir sehen, wie die Sorge um memoria den Pharao und den Smartphonebenutzer von der Gegenwart abschnürt: Die Gegenwart wird benötigt für die Gestaltung einer Erinnerung; das Denkmal der Erinnerung bezieht sich dann auf eine Gegenwart, die es gar nicht gegeben hat. Das ist nicht problematisch, denn alle drei Zeiten sind nichts als Gegenwart. An Selfie und Pyramide erweist sich gleichermaßen, dass Erinnern zuallererst ein gestalterischer Akt ist, ein Vehikel, um den Gestaltungsanspruch von innen nach außen zu tragen. Die verstreichende Zeit zerfällt in den Setzkasten des Gedächtnisses, aus dem heraus ich neuen Text und neue Welt pflücke, nach meinem Bilde, in guten wie in schlechten Zeiten.
Le diverse et artificiose machine del Capitano Agostino Ramelli dal ponte della Tresia, ingegniero del Christianissimo Re di Francia e di pollonia, nelle quali si contengono varij et industriosi Movimenti, degni di grandissima Speculatione, per cavarne beneficio infinito in ogni sorte d’operatione. Composte in lingua Italiana et Francese. A parigi in casa del’autore, con privilegio del Re 1588.
Das Bücherrad: Die geordnete Bezüglichkeit von Schrift, Bild und Klang, in der Kultur als Gewebe und Gedächtnis entfesselt wird. In Gegenwart versammelt, als vorerst letzter Jahresring. Ein Wald, der von seinem Ende nichts wissen will. Die Lektüremaschine des Bücherrades überwindet die materielle Grenze des einzelnen Buches; der letzte Anker eines Zusammenhangs liegt in Gedächtnis und Aufmerksamkeit des Benutzers: die rotierenden Regalbretter sind parallel geöffnete Tabs. Lese- und Schreibpult waren und bleiben dabei äquivalent. Die Umlaufgeschwindigkeit bleibt auf den Einzelnen zugeschnitten, der unabsehbare Vorrat ist Menschheit, nieversiegender Nachschub. Friedrich Schlegel träumte im 95. Fragment seiner Ideen, dass »in der vollkommnen Literatur alle Bücher nur Ein Buch sein« werden, im Bücherrad hätte er bereits das Vehikel dieser Hochzeit gehabt. Heute dreht sich das Bücherrad hinter unseren Bildschirmen als Internet – mit der Geschwindigkeit der verliebten Kristallschalen, an denen befestigt sich die Sterne am Himmel um unseren Augenpunkt drehen.
Wieviel Rom war,
das lehrt selbst ihre Ruine.
*****
Die Reihe unendlich unwahrscheinlich erscheint anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Instituts für moderne Kunst Nürnberg.
unendlich unwahrscheinlich Nummer 02: Vorratsdatenruinen
ein SuKuLTuR-Produkt
ISBN: 978-3-955660-69-7
Bestellbar unter info@moderne-kunst.org
(3,– Euro inklusive Versand.)
Tobias Roth,
geboren 1985, lebt als Autor, Übersetzer und Philologe in München. 2017 erschienen u.a. die von Roth herausgegebene Anthologie Lob der mechanischen Ente bei SuKuLTuR (Berlin), ein gemeinsam mit Asmus Trautsch und Melanie Möller gestalteter Kommentar zu Ovids Liebeskunst bei Galiani (Berlin), seine Dissertation über Die Sonette Giovanni Pico della Mirandolas im Universitätsverlag Winter (Heidelberg), sowie die Neuübersetzung von Voltaires Der Fanatismus oder Mohammed im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis (Berlin), zu dessen Gründungsgesellschaftern Roth zählt.