Gerade erschien der neue starfruit publications-Band: Die Auswandernden von Peter Waterhouse und Nanne Meyer. Ein Versuch von Joshua Groß (*1989), mögliche Bedeutungsebenen aufzufächern.
In seinem Essay Slipstream (1989) entwickelte Bruce Sterling die Idee einer Literatur, die über den Realismus hinaus zeigt: »Instead, it is a contemporary kind of writing which has set its face against consensus reality. It is a fantastic [writing], surreal sometimes, speculative on occasion, but not rigorously so. It does not aim to provoke a sense of wonder…«
Die Auswandernden, der neue Roman von Peter Waterhouse (*1956) provoziert nicht; aber er sensibilisiert den Leser für die kollektive Verkalkung der Hirne; er macht erfahrbar, wie sehr das Denken in der Gewohnheit verrostet, wie stark der kognitive Kapitalismus manipuliert. Dabei mörsert Peter Waterhouse die Wahrnehmung so fein, dass er bisweilen in ein transzendentes Erzählen rutscht. Die Auswandernden ist gleichzeitig a) eine Erinnerung, b) ein ideen- und sprachgeschichtlicher Versuch, sowie c) die (spekulativ bis surrealistische) Aufzeichnung eines Heilungsprozesses, der die Akzeptanz von Irrlichtern beinhaltet und eine unglaublich zarte Willkommensgeste an den Abschied (und den Tod) darstellt.
Ein Hauptmotiv in Die Auswandernden ist (konkret wie metaphysisch) das Übersetzen: das Übersetzen von Sprachen und Gesten; das Übersetzen über einen Fluss; das Übersetzen in einen anderen (Seins-)Zustand. Für Peter Waterhouse scheint das Übersetzen verwandt zu sein mit dem Übertreten, mit dem Eintreten, mit der Verständigung, mit der Erlösung. Der physisch erfahrbare Zustand des Lebens ist womöglich nur eine Schwelle, oder zumindest nur ein Zustand von vielen möglichen. Und das Übersetzen, wenn es nur feinsinnig genug genutzt wird, ermöglicht die Versöhnung mit anderen (Seins-)Zuständen; mit unverständlichen Zuständen, schmerzhaften Zuständen, ausgrenzenden Zuständen.
Die Zeichnerin Nanne Meyer (*1953) wiederum übersetzt gleichsam die Gedanken von Peter Waterhouse; greift Worte auf oder Sätze; verfeinert die Ideen weiter, dreht sie um; zeichnet dem Buch einen doppelten Boden ein; ein doppelter Boden, der die Geheimnisse des Romans zugänglich macht (»aber bedeutete Ende soviel wie Mitte?« / »war das Wünschen eine Art nichts zu tun?«).
Der eigenwillige Erzähler berichtet in Die Auswandernden von seiner Beziehung zu Media, einer Immigrantin in Wien. Er berichtet von Intimität und Nähe, von der Verständigung zwischen Liebenden; er berichtet von den Tagen, an denen er Media kennen lernte; und er berichtet von Medias Ankunft in Österreich. Er berichtet von seinem Sohn; von einer Freundin, die ihren Tod voraussah. Gleichbedeutend berichtet er von Büchern: von den Geschichten Adalbert Stifters, von Charles Dickens, von Goethe. Er berichtet vom österreichischen Asylgesetz, vom Fremdsein und der Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Der Erzähler berichtet aber auch von der Sprache, von ihrer Bedeutung und Beschaffenheit. Er berichtet so eindringlich und geduldig von der Sprache, dass die Worte so leicht werden wie Pillen auf der Zunge, dass sie langsam mit der Welt verschmelzen, dass die Ohnmacht, die von den Worten ausgeht, verschwindet in der Verschmelzung, dass sich die Worte überwinden lassen. Das passiert nach und nach, ohne die Worte zu provozieren: Peter Waterhouse provoziert die Worte nicht, stattdessen schmirgelt er sie, ganz vorsichtig; er verwendet sie im Bemühen, sie nicht miteinander zu verwechseln, solange, bis er über die Worte hinaus denken kann, in andere (Seins-)Zustände hinein. So verlieren diese anderen Zustände ihren Schrecken, ihre hermeneutische Fremdheit; es entsteht die Möglichkeit einer Auswanderung in andere Zustände; die Welt ist nicht mehr begrenzt und die Leben sind nicht mehr abgeschlossen; die Verständigung und Vereinigung wird möglich. Das alles macht Die Auswandernden so heilsam, das macht Peter Waterhouse beinahe zu einem Schamanen. Ein Buch wie ein Heilungsprozess; als wäre jeder Satz ein Blutgerinnsel, als wäre jeder Satz eine Insel; als würde jeder Satz in der Wunde erscheinen, nach und nach die Wunde bedecken, behutsam; als wäre die Zeit der Lektüre ein Nachempfinden der Heilung; ein Heilungsprozess des Lesenden; eine eigene Heilung of the mind.
So verlieren auch die Vorschriften allmählich ihre Bedeutung; die Gesetze verlieren ihre Bedeutung; die Vorurteile verlieren ihre Bedeutung. Peter Waterhouse schmirgelt die Worte, bis sie nichts mehr vorschreiben können. Und die »consensus reality« wirkt nicht mehr undurchschaubar, sondern vorgefertigt, also gefertigt, also veränderbar. Media bittet den Erzähler am Ende des Buch (am Anfang der Liebesgeschichte, am Beginn der Erzählung): »… machen Sie die Stille hörbar. Alle kommen, um nicht durch öftere Wiederholung tiefer in der Seele geprägt zu werden.« Dieser Bitte nachkommend schrieb Peter Waterhouse einen ganzen Roman, um die Prägungen aufzuheben; einen Roman, der die unerbittlich Prägungen befragt, weil: »… war der fragende Satz schöner als jede Behauptung und Erklärung?«; ein Roman voller Fragen; ein Roman, der aufzeigt, dass das Auswandern, das Immigrieren, das Asylsuchen zwar räumlich stattfindet, vor allem aber mental: die Worte sind fremd im Asyl – wie die Gedanken, die sich in fremden Worten äußern.
Und auch wenn Peter Waterhouse kein Schamane ist, kommt man nicht umhin, im Einfühlungsvermögen von Die Auswandernden einen »sense of wonder« zu entdecken; ein Wunder, das weniger absurd ist als die begrenzte Welt um uns herum, weniger absurd als unsere beschränkten Gehirne, weniger absurd als die Erstarrung. Weil das Auswandern eine Bewegung darstellt, keine Deutung; ein Handeln, kein Entsetzen. Weil der Verlust der Sprache (in der Fremde) die Welt ermöglicht, so wie das Mörsern der Wahrnehmung die Welt ermöglicht. Auch der, der sich gegen die »consensus reality« stellt, berichtet Peter Waterhouse, ist ein Auswandernder, ein Flüchtender, ein Immigrant. Ein Übersetzender; einer, der in andere Zustände übersetzt.
»… ich dachte, dass die Geflüchtete, die Eingewanderte der Wahrheit näher gekommen war, ihr näher kam, und dass die Wahrheit einherging mit dem Verlust der Erklärung.«
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Peter Waterhouse / Nanne Meyer
Die Auswandernden
starfruit publications, 2016
320 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3922895282
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Alle Abbildungen © Nanne Meyer.
Interview mit Nanne Meyer auf LÜCKE hier lesen.
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