Der Journalist Johannes Hertwig (*1984) hat sich Frank Castorfs letzte Inszenierung an der Berliner Volksbühne angeschaut und erklärt, warum er seitdem bei Faust immer an Snacks denken muss. Ein Stream-of-Consciousness zum Ende des sympathisch-unzeitgemäßen Erschöpfungstheaters, das seltsam begeistern konnte.
Ladi Dadi wie Slick Rick / mag ich die Party doch ich nenne sie Picknick
(Michi Beck aka Hausmarke)
Als die Erdnuss mit einem Sklavenschiff aus Südamerika in die Vereinigten Staaten kam, ahnte noch niemand, dass diese kleine Hülsenfrucht, in Teilen der Schweiz aufgrund ihrer Herkunft auch Spanisches Nüssli genannt, der Beginn einer Kulturrevolution war. Bis dato bestand der Alltag aus drei Mahlzeiten: Frühstück, Mittag- und Abendessen. Doch mit dieser als Nuss getarnten Frucht begann das Zeitalter der Snacks. Kleiner als eine normale Mahlzeit und damit perfekt für alle Zwischensituation geeignet, ist der Snack eine beispiellose Erfolgsgeschichte.
All das interessierte die Sklaven auf dem Schiff damals wenig, so wenig, wie die Algerier Frankreich, bevor dieses in einem Anflug von Allmachtsfantasie beschloss, Algerien zu kolonialisieren und die vermeintlich überlegene, eigene Kultur zu verbreiten. Dass dieses traurige Kapitel französischer Geschichte lange verschwiegen wurde und noch heute in europäischen Nachbarländern so gut wie nicht bekannt ist, ist fatal. Umso besser, dass Frank Castorf, der Eremit im ewig revoltierenden Berliner Theaterstadl, in seinem Faust der Revolutionsnation Frankreich die gegenfranzösische Revolution des Algerienkriegs gegenüberstellt. Dass ein solcher Theaterabend anstrengend sein muss versteht sich. 7 Stunden. Kein Osterspaziergang. Ohne Snack würde hier niemand mehr auferstehen, aus den unbequemen Plastikstühlen am Rosa-Luxemburg-Platz.
Der erste Snack ist ein Smoothie, eine Zwittersnackform. Fast noch Saft, ist er mehr ein Snack-Snack. Er wird nicht weiter beachtet. Wie die Rolle der Frau im Algerienkrieg. Dabei waren unter den Partisanen viele Frauen, die, vor allem als Bombenträger, eine gewichtige Rolle bei der Revolution gegen die Besatzer spielten, wie Daniel Zillmann, ein dicker weißer Mann im weißen Anzug, in einer Kaschemme auf der Drehbühne erklärt, bevor er an einen Gitterkäfig gelehnt Summertime singt. In Schwarzweiß flimmern Filmfetzen wie als Beweis über eine Großbildleinwand, darunter kriecht eine Afrikanerin mit weißen Schminkpunkten im verzweifelten Gesicht neben dem Käfig.
Nach gut zwei Stunden steht der Geschmack nach etwas Süßem. Also versuche ich umständlich, ein Franzbrötchen geräuschlos aus der Papiertüte zu ziehen, die gut versteckt im Turnbeutel am Boden liegt. Es gelingt, wenn auch viel zu laut. Die Kulturbürgerin vor mir dreht sich kurz um und schaut pikiert. Sie versteht nichts. Schade.
Das Franzbrötchen ist ebenfalls ein Snack, der seinen Namen einer kriegerischen Handlung verdankt. Nach einer plausiblen Theorie ist das in Hamburg entstandene Gebäck eine Reminiszenz an das große französische Vorbild, das Croissant, welches Napoleons Truppen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Hansestadt brachten. Wie dankbar man damals den Besatzern für das Franzbrötchen war, mag ich nicht zu erahnen. Aber heute ist es ein fester Bestandteil der deutschen Snackkultur.
Auf eine verquere Art könnten die algerischen Frauen auch Frankreich dankbar sein. Frankreich brachte die Freiheit vom Schleier. Aber gleichzeitig auch eine neue Unterdrückung. Doch wiederum erst im Zuge der Revolution gegen Frankreich, entdeckte die algerische Frau wieder ihren Körper und erkämpfte sich nicht nur die Freiheit vom Kolonialreich, sondern auch die vom Patriarchat. Jede Bombe war auch eine Bombe für die Unabhängigkeit. So sagen es jedenfalls die diversen Gretchen. »Warum nur eine, wenn man fünf haben kann«, wie Wuttke sabbelnd und brabbelnd als Lustgreis Faust in den Zuschauerraum ruft, auf der beeindruckenden Drehbühne zwischen Höllentor, Metrostation und Baz Lurmann’scher Gatsbykulisse (ja, auch Gatsby wurde, ebenso wie Lord Byron und auch Heinrich, der Faust, vom ewig Weiblichen auf der Suche nach Sex und/oder Liebe hinan gezogen). Dann erhält er eine Flasche Schnaps. Der macht alle Frauen zu Helenen, so sagt man ihm dabei. Der alte weiße Mann und sein Machtstreben sind ein teuflischer Pakt, das ist offensichtlich. So zeigt es der alte, weiße Castorf und die berühmte Riege der »Volksbühnen(schreckens)weiber«, wie der Rezensent der Süddeutschen Zeitung schrieb. Das Männliche ist das Vergängliche, so sagt es das Programmheft.
Den Teufel erkennt man stets am Schwanz.
Und wenn es ein großer, wackelnder Dildo ist, dann darf auch die Kultur über diesen Slapstick herzlich lachen. Ist ja kein Hollywood, ist ja Kunst. Meta, Ironie und so.[1]
Der Kunstdiskurs macht Lust auf etwas Authentisches, Echtes. Vom Boden der braunen Bäckertüte fingere ich ein Pain au Chocolat und ein halbes Baguette vom Vortag hervor. Es ist schon relativ trocken, aber es gibt einen ganzen Tiegel Hummus oder Humus, Hommos, Hommus, Hummous, Houmus, Hoummous, Chumus, Humos oder Homus zum tunken. Die orientalische Spezialität aus pürierten Kichererbens, Tahina, Olivenöl, Zitronensaft, Salz und Gewürzen ist die Yeezy-Kollektion unter den neueren deutschen Snacks; nur mit Inhalt, aber in gleicher Farbe.
Während man auf der Bühne nun in einem Metrowaggon französisch spricht und diesen mit Supreme-Plastiktüten bestückt in Richtung eines Modegeschäfts verlässt – über die Lautsprecher läuft natürlich harter Rap – beiße ich in weiches Kichererbsenmuß auf hartem Weißbrot. Hummus ist vor allem im Libanon, den palästinensischen Autonomiegebieten, Israel und Syrien eine Nationalspeise, die aber bereits vor der ersten Welle Refugees als Snack Deutschland im Sturm eroberte (die letzten vier Worte schreit Martin Wuttke mit glitzerndem Libellenhemd und Zylinder in der Mitte der Bühne).
Die deutsche Ernährungswirtschaft sieht die steigenden Einwanderungszahlen laut einem taz-Bericht jedenfalls als Chance für ein ansehnliches Umsatzplus – selbst wenn lediglich die 141,66 Euro des Hartz-IV-Regelsatzes für Essen und Trinken ausgegeben werden. Die Industrie freut sich jedenfalls über »die Einflüsse, die die Flüchtlinge mitbringen«, so Branchenvertreter Minhoff. Und auch Paul Söbekke, Chef der gleichnamigen Biomolkerei glaubt an eine weitere Verbreitung orientalischer Lebensmittel wie Hummus und Couscous. Wirft man einen Blick in die Kühlregale der Discounter, aber auch anderer Lebensmittelmärkte, so behalten beide Recht. Im Vergleich zu 2013 ist die Anzahl neuer Hummus-Produkte 2014 um über 30% gestiegen. Aktuelle Schätzungen deuten darauf hin, dass sich dieser Trend bis in die Gegenwart weiter fortsetzt.
Hummus liegt im Trend. Unter den Protestschildern bei Demonstrationen gegen den muslim ban von Donald Trump war einer der Viralsieger die Tafel einer jungen Frau: »We gave you Hummus. Have some respect.«
Nach knapp 7 Stunden und einem Turnbeutel voller Snacks schreit Valery Tscheplanowa als halbnacktes Gretchen die erlösenden Worte: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan.« Oder doch zu viele Snacks, denke ich ermattet.
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Alle Abbildungen © Johannes Hertwig.
[1] Einige Stunden davor verwandelt Castorf den Volksbühne-Intendanten-Diskurs mit einem rudicarellenden Alexander Scheer als der von Goethe verehrte Lord Byron als Chris Dercon in einen Kunstdiskurs als Pressekonferenz. Man lacht. Man wird auch bei Dercon lachen, nur anders.