Diskurs

Kann ein Pilz die Welt erklären?

Ellen Wagner und Alexander J. Roth widmen sich anhand zweier Bücher den Beziehungssystemen von Kunst und Wissenschaft: Denken in einer schlechten Welt von Geoffroy de Lagasnerie sowie Der Pilz am Ende der Welt von Anna Lowenhaupt Tsing, beide 2018 bei Matthes & Seitz erschienen.

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Berlin, Schöneberger Ufer im April 2018: Ein Austernpilz im Keller einer zukunftsweisenden Galerie erhält wichtige Informationen zur Weltliteratur. Ein digitaler Datenstrom überträgt die Inhalte zentraler Werke von Autorinnen und Autoren wie James Joyce oder Donna Haraway in das organische Material. Wie üppige Hibiskusblüten wachsen die data infused mushrooms in Oskar Kolianders Intelligo (2017) aus einer Aluminium-Konstruktion silbrig schimmernder Schächte hervor. Ein Teil der Pilze wurde schon geerntet, in praktische Plastikbehälter verpackt und in einen Kühlschrank einsortiert.

Wenige Monate später, Berlin Mitte im Dezember 2018: Feuchtkühler Nebel umhüllt die malvenfarbig gepolsterten Sitzbänke eines Kinoraums, in welchem in fast meditativer Langsamkeit die nach dem Niedergang der ansässigen Metallindustrie verlassene, doch weiter instandgehaltene Stadt Kitsault in Kanada gezeigt wird. Im Nebenraum gedeihen ganze Regalbretter voller prächtiger Löwenmähne-Pilze. Als wären sie ein Sortiment vergessener Badeschwämme oder Cheerleader-Pompons, wachsen die Exemplare des leistungssteigernden und gedächtnisfördernden Vitalpilzes als Teil der Installation Deliquescing (2018) von Steve Bishop ihrem Morgen entgegen, auf dass das Gestern noch lange erinnert werde.

Pilze verbreiten sich meist unsichtbar als unterirdisches Myzel, doch in der zeitgenössischen Kunst vermehrt auch oberirdisch an der visuellen Oberfläche. Spekulationen über künftige Agrarzweige und Genmanipulationen, Technologieentwicklungen und Netzwerkgedanken bilden oft den Kontext künstlerischer »Pilzarbeiten«. Ein Hauch von Theorien des Rhizoms und des Geflechts atmet durch die feingliedrigen Lamellen der organischen Exponate, doch echte wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln diese Werke kaum – ihre Qualität ist vielmehr fragmentarische Poesie, die »in Stimmung« bringt, um über das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft zu reflektieren.

Könnte das Motiv des Pilzes in der Kunst vielleicht tatsächlich in besonderer Weise für die Verwobenheit menschlicher und nicht-menschlicher Arten sensibilisieren? Und inwiefern könnte die »Methode des Myzels«, des langsam, geduldig immer weiter sich verzweigenden Geflechts, wie sie etwa die von Bruno Latour skizzierte Akteur-Netzwerk-Theorie zur Beschreibung solcher vernetzter Seinsweisen vorschlägt, der Wissenschaft zu mehr gesellschaftlicher Relevanz und Nachvollziehbarkeit verhelfen? Wie könnten beide Stränge dabei einander ergänzen oder »unter die Arme greifen«? Ein Denken in hybriden Wissensformen zwischen Information und Spekulation, die sich aus der Involvierung ins soziale Leben herausbilden, erscheint so aktuell wie herausfordernd. Die Verflechtungen fransen aus, leiten Nebenstränge ein, täuschen Wege vor, deren Verfolgung fruchtbar erscheint. Ob ein Weg zu so etwas wie Wahrheit führt, wissen wir erst, wenn wir ihn bis zum Ende gegangen sind.

Szenenwechsel, ebenfalls Berlin. Eine schon verschollen geglaubte Buchsendung findet ihren Weg auf den Tisch der Bemusterung. Unboxing ohne Kamera. Augen sehen: Kampfrot ist sein Cover. Gekreuzigt von einem schwarzen X, das sich partiell als Hintergrund für den Titel hergibt: Denken in einer schlechten Welt. Sein Autor Geoffroy de Lagasnerie ist Philosoph und Soziologe und lehrt als Professor an der École nationale supérieure d’arts de Paris-Cergy. Er denkt, schreibt und mischt sich ein. Während die ersten beiden Beschäftigungen in Bezug auf den Professorenstatus nicht für Verwunderung sorgen sollten, so handelt es sich bei Letzterem nicht um eine Selbstverständlichkeit, hat die Tatsache des Einmischens in öffentliche Debatten nicht nur hierzulande doch oft ein salziges Geschmäckle, mit dem man respektive frau sich als seriöse universitäre Lehrperson nicht das Pilzsüppchen namens Laufbahn verderben möchte.

Um eben jene Vorbehalte und noch um etwas viel Größeres geht es Lagasnerie. In Werken wie Michel Foucaults letzte Lektion. Über Neoliberalismus, Theorie und Politik (2012) und Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning (2016) hat er thematisch und methodologisch für das den Weg geebnet, was nun in seiner jüngsten Buchveröffentlichung zur vollen Entfaltung kommt: Sie spricht von nichts Minderem als der Entwicklung eines oppositionellen Denkens, einer oppositionellen Praxis, die beginnend mit den Bereichen Kunst, Philosophie und Wissenschaft nach und nach die ganze Gesellschaft zu erfassen trachten soll. Wie sehr diese Reformation des Denkens und Handelns nötig ist, worum es ihm im Kern seines Projektes geht, macht der Autor am Beispiel der Wissenschaft gleich zu Beginn deutlich:

»Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbstständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Handeln bescheidet, hat auf die Humanität schon verzichtet.« (S. 19)

Lagasnerie zielt auf nichts Geringeres als das Wiederbewusstmachen eines uralten Problems ab, das seit Beginn des philosophischen und wissenschaftlichen Arbeitens auf den Akteuren und Werken dieser Professionen lastet. Es mündet in der Frage, wie Denken und Handeln, Theorie und Praxis zusammenfinden können. Eine besondere Wendung bekam die Analyse dieses Hiatus in der Marxschen und Post-Marxistischen Theorie, die im Speziellen eine Trennung von Wissenschaft und Politik problematisiert, welche Lagasnerie im Buch mit dem Konstatieren »der Ethik einer Enthaltung von Engagement« (S. 20) punktgenau in Bezug auf die gegenwärtige Geisteslandschaft aktualisiert. Ganz im Sinne Adornos begibt sich Lagasnerie auf die Suche nach Wegen, an deren Ende eine neue Ethik Konturen bekommt. Eine Ethik, die die Trennung – Zeichen des falschen Denkens, Zeichen einer falschen Welt – aufhebt. Eine Ethik, in der die Kunstschaffenden, Forschenden, Schreibenden, intellektuell Arbeitenden sich nicht mehr vor der Verantwortung des politischen Involviert- und Engagiertseins fürchten und nach geistiger Abgeschiedenheit streben, in der wissenschaftliche, künstlerische und politisch-gesellschaftliche Kritik nicht voneinander isoliert wird. Es ist die Suche nach einer Ethik des geistig-gesellschaftlichen Geerdetseins, einer Ethik des radikalen Zusammenwachsens – einer Ethik des Pilzes?

Aufklärung statt Trübung als Maxime wissenschaftlichen Arbeitens ist das Postulat, mit dem sich Lagasneries publizistisches Projekt identifizieren ließe. Sein Plädoyer für einen Gestaltwandel wissenschaftlicher und intellektueller Systeme zielt auf eine Ethik ab, die Beziehungsgeflechte des Falschen in einer omnikapitalistischen Gesellschaft offenlegt, beleuchtet und umgestaltet. Das, was er in diesem Zusammenhang als kritischen, oppositionellen Ansatz bezeichnet, kulminiert in der Erkenntnis, »dass Denken in einer schlechten Welt […] immer ein Freilegen verborgener Bedeutungen einschließt – wir gehen zu uns selbst auf Distanz und erkennen uns als etwas, das wir gar nicht zu sein glaubten.« (S. 78). In diesem Sinne könnte man Lagasneries Sozialphilosophie beinahe einen therapeutischen Charakter zuschreiben, jedoch in den Wendungen der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers gedacht: Indem ich meinen Blick auf das Ganze, auf die Totalität der Zusammenhänge richte, verstehe ich problematische Verbindungen, in die ich involviert bin, die zuvor im Verborgenen lagen. Verbindungen, die gesellschaftliche Strukturen perpetuieren, die entscheidenden Anteil an der Aufrechterhaltung einer Welt des Falschen haben und so eine Veränderung zum Guten, Richtigen hin unmöglich machen.

Beinahe ironisch ist es, dass Lagasnerie in seinem Buch diese ihrerseits bereits hochgradig voraussetzungsreiche Forderung stellenweise in Richtung eines Denkens exaltiert, das – um in der Sprache der Kritischen Theorie zu bleiben – in seiner Fixierung auf das Totale die Eigenheiten des Besonderen, das Partikulare, das Nicht-Identische zu vergessen droht. Dies geschieht vor allem dann, wenn der Autor Kunst und kunstschaffende Akteure in seine Analyse miteinbezieht.

Auf recht großzügig abstrakter Ebene postuliert der Autor eine notwendige Parallelität zwischen Kunst und Wissenschaft hinsichtlich ihrer Engagiertheit und bleibt, was konkrete Formen der »Einmischung des Intellektuellen« betrifft, vage. »Publizieren«, »forschen« und »kulturell tätig sein« werden rasch unter dem Oberbegriff der »Gestaltung des Laufs der Welt« zusammengezogen, ohne näher auf die Spezifika unterschiedlicher Wissensformen einzugehen. Lagasnerie spricht sich für problemorientierte Studien aus, die, gegen das Prinzip der punktuellen Fallstudie, »in Begriffen von Totalitäten denken«. Politisierend wirke hier ein komparatistischer Geist, ein Austausch zwischen den Disziplinen und mit der außerakademischen Öffentlichkeit. Die »Frage nach den Gesprächspartnern« steht als zentrales Anliegen am Ende der Ausführungen: Wie bekommt man Aufmerksamkeit bei Leuten, die Einfluss und/oder ähnliche Interessen haben, statt als Wissenschaftler ohne Aussicht auf breitere Rezeption zu publizieren?

Es ist Zeit, eine Stichprobe zu nehmen: Anna Lowenhaupt Tsing ist Professorin für Anthropologie an der University of California, Santa Cruz, und widmet sich auf knapp vierhundert Seiten dem Pilz am Ende der Welt – dem Matsutake, dessen Geflecht sie entlang vielfältiger ökologischer und ökonomischer Stränge verfolgt. Ihr »flickenhaftes Erzählen« vom Pilzfieber basiert auf Gesprächen mit Wissenschaftlern, Forstleuten und Händlern in den USA, Japan, Kanada, China und Finnland jeweils zur Matsutake-Saison. Ihr Gegenstand, der sich in unterschiedliche Orte und Disziplinen verzweigt, ist das prekäre Leben unter den »Verheerungen des Kapitalismus«, in »störungsbasierten Ökologien, in denen mitunter zahlreiche Arten ohne Harmonie, aber auch ohne Eroberungsversuche zusammenleben.« (S. 19, kursiv i. O.)

Wie Lagasnerie hat Tsing ein klares Bild von einem Falschen, das verschiedene Bereiche des Gesellschaftlichen befällt, wie etwa die »Privatisierungs- und Kommerzialisierungsprojekte des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts« als Teil eines ökonomisierten Systems, das auf Vereinzelung statt Kollaboration setze und unseren Blick verenge. (S. 388)

Tsings Methode lässt sich als eindrückliches Akteur-Netzwerk beschreiben: ein langsames Abgehen der über Jahre hinweg gemachten Bekanntschaften, der einzelnen Schicksale in ihrer Verknüpfung mit dem Matsutake-Sammeln, der Zwischenräume des Gesetzes, in denen dieses stattfindet und sich bewusst verortet, der Wachstumszyklen und Preisentwicklungen für den begehrten Speisepilz, der Übersetzungen zwischen unterschiedlichen Ökonomien und Konsequenzen eines zu einseitig gedachten Umweltschutzes allein nach dem Bewahrungsprinzip.

Man hat es mit einem Buch zu tun, in dem man sich verirren kann: zwischen Rotfichten und Drehkiefern, mitunter auch zwischen vereinzelt gestreuten kapitalismuskritischen Generalaussagen und Metaphern über das Verflochtene der Arten und Seinsweisen. Stellenweise hätte man sich einen etwas leichtfüßigeren Gang durch den Wechsel von Raffung und Ausführlichkeit gewünscht – etwa im Kapitel über das »performative« Freiheitsverständnis der Pilzsammler, die die Zuordnung der Waldgebiete zu jemandes Eigentum in einer fragilen Schwebe halten. Hier hätte man gerne einen strukturierteren Exkurs zur »Biodiversität« von Freiheitsbegriffen gelesen. Dennoch bietet Tsing nicht nur unglaublich viel Information, sondern auch poetische Schilderungen von Sinnesempfindungen und Gedichtzitate: »Die Höhen von Takamatsu, voll aufschirmender Pilze die groß werden, gedeihen – das Wunder herbstlicher Aromen.« (aus dem Man’yōshū, japanische Gedichtsammlung aus dem 8. Jh., hier S. 13.)

Vielleicht ist dies ein Punkt, an dem die Linien der literarisch aufbereiteten Wissenschaft und der Kunst einander schneiden: Der Geruch des Pilzes zwischen Duft und Gestank – »nach Kompost«, würde wohl Bruno Latour sagen und damit auf die stetige Zersetzung und Transformation der Elemente eines Ökosystems und (s)einer Geschichte anspielen –, schafft Atmosphären, die eben nicht immer durchgehend angenehm erfahren werden. Der Pilz, und auch hier hat die Kunst ihren Einsatz, wenn sie sich mit wissenschaftlichen Themen beschäftigt, wächst über weite Flächen unsichtbar. Ein Sammler, so betont Tsing, muss daher sensibel werden für die unscheinbaren Anzeichen seiner Präsenz – nicht umsonst sehen viele Sammler ihre Tätigkeit nicht als Job, sondern als »Suche«.

Das Spiel mit dem Zusammenhängenden und dem Fragmentarischen, den Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten erscheint zentral für eine Wissenschaftsvermittlung, die nicht nur selbst eingebunden ist, sondern auch ihre Rezipientinnen und Rezipienten zu involvieren vermag. Es stinkt, betört, ist schwer zu finden – eine Ästhetik des Pilzes? Wie also lassen sich die Wissensformen der Wissenschaft und der Kunst zueinander in Beziehung setzen? Welche Chancen und Gefahren gehen von einer auf Totalität und umfassende Verflochtenheit ausgerichteten Forschung und deren Darstellung, wie man sie in einem Zusammenziehen der Ausführungen Lagasneries und Tsings denken könnte, aus? Und auf welches Terrain begibt sich die Kunst, wenn sie sich ihren Ansatz im Bereich des Wissenschaftlichen sucht?

Spannend wird es für erkenntnisorientierte Pilzsuchende bei Tsing immer dann, wenn sich vermeintlich disparate Welten treffen und Sphären zusammenfinden, die eigentlich nicht zusammengehören (sollen). Wenn die Ökologie von der Musikologie lernen kann und vice versa, wenn sich beispielsweise die divergierenden Muster natürlich-biologischer Gefüge mit der noch nicht vereinheitlichten Zeitlichkeit und multimelodischen, multirhythmischen Komplexität polyfoner Musik querlesen lassen. Oder wenn das behandelte Feld zwischen Ökologie und Politik changiert, wie am Beispiel der Allmenden: als Form des gemeinschaftlichen Gemeindeguts, das weder Besitz- noch Eigentumsgrenzen kennt, vor allem im Alpenraum ein Konzept mit sowohl landwirtschaftlicher als auch sozialer und rechtlicher Bedeutung, ist sie für Tsing von besonderem Interesse, da sie als Phänomen zugleich omnipräsent und abgeschieden, wenig entwickelt und doch komplex hinsichtlich ihrer Kollaborationsgeflechte ist. Wenn Tsing dann eine Erweiterung des Allmendebegriffs im Sinne eines Einbeziehens nichtmenschlicher Formen einfordert, geht es jedoch ins Obskure hinab:

»Latente Allmenden sind nicht ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Enklaven. Öffnet man die Allmenden anderen Wesen, verschiebt sich alles. Wenn wir Schädlinge und Krankheiten einbeziehen, können wir nicht mehr auf Harmonie hoffen. Der Löwe wird nicht beim Lamm liegen. Organismen fressen sich aber nicht nur einfach gegenseitig auf; sie bilden divergierende Ökologien. Latente Allmenden sind jene wechselseitigen Verflechtungen ohne Antagonismen, die in diesem Spiel der Verwirrungen auftreten.« (S. 342)

Die Allmende als revolutionäres Gesellschafskonzept zu verstehen, das aber permanent von parasitären Schädlingen bedroht ist? Ist es wirklich das, was Tsing uns hier zu verstehen gibt? Wenn dem so wäre, befänden wir uns inmitten einer faschistoiden Gedankenwelt, in unsäglichen Heuschreckendiskursen und Untermenschenideologien. Tatsächlich lässt sich die Passage auch ganz anders lesen: als starkes Plädoyer gegen den Anthropozentrismus im Verweis auf nicht kontrollierbare oder (aus)nutzbare Entwicklungen, die für einzelne Arten unvorhersehbar, auch schädlich sind. Tsing verwirft das radikale Fortschrittsdenken gegenüber dem Modell eines Werdens und Vergehens in der Verflechtung der Arten.

Hier aber wird die Metaphorik in ihrer Vagheit – die wohl nötig ist, um das Oszillieren zwischen dem Politischen und dem Biologischen am Schwingen zu halten – problematisch. Die interdisziplinär ausgeweitete Metaphorik bietet hier nicht nur die Chance, durch bildhaft-poetische Passagen einen neuen Blick von der Natur- auf die Geistes- und Politikwissenschaften sowie umgekehrt zu gewinnen. Sie liefert potenziell ebenso einen Ansatz, auf dessen Grundlage eine wechselseitige Verdrängung von Arten als »natürliche« Dynamik erscheinen könnte, die, sobald man sie wiederum auf das Zusammenleben innerhalb der Art des Menschen überträgt, in eine Verharmlosung der vom Menschen selbst (mit-)verschärften Ursachen und Folgen von Ressourcenknappheit und Durchsetzung der Stärkeren kippen kann.

All dies steht so nicht bei Tsing, doch findet sich hier eine Verwendung des Metaphorischen, die interdisziplinäre, häufig an neuen Materialismen orientierte Forschung zwar anschaulich, teils aber auch schwammig werden lässt. Es droht die Gefahr, als Pilzsucher respektive Pilzsucherin einem Biologismus zu erliegen, der sich entweder als veritable rhetorische Pilzvergiftung erweisen kann oder zumindest zeigt, wie eng eine »Ethik des Pilzes«, die, wo sie Wurzeln zu entdecken vermeint, mitunter ihre eigenen Triebe begutachtet, in ein »Spiel der Verwirrungen« eingespannt ist, das auch dem Wissenschaftler selbst bisweilen zu entgleiten droht.

Die Wissenschaft muss genaue Unterscheidungen einführen, um Parallelen und Zusammenhänge zwischen Wissensgebieten herauszustellen, genauso aber klar zu machen, wo eine Ähnlichkeit der Symptome auf unterschiedlichen Ursachen beruht, wo das eine eben nicht ohne Weiteres dem anderen vergleichbar ist, wo die Andeutung einer Analogie noch lange nicht die homologe Entwicklung des Verschiedenartigen bezeugt.

Die Kunst dagegen kann durch Bildhaftigkeit und Atmosphäre verunklären und provozieren. Insofern liegt vielleicht eine ihrer Herausforderungen darin, das fragmentarisch aus dem wissenschaftlichen Phänomenbereich Herausgegriffene – die künstlerische Fallstudie – wiederum mit einem Hauch beherzter Totalität zu umgeben. Dies ist gemeint im Sinne eines Herstellens von Zusammenhängen und Assoziationen, die gerade nicht wissenschaftlich geprüft und erwiesen sind, sondern tatsächlich eine übelriechende Note im Ethischen entfalten können – die durch Verortung im Bereich der Kunst aber stärker noch als die engagierteste, nicht auf Wahrheitsanspruch zielende Wissenschaft den Zweifel und Protest des Publikums herausfordern.

Zurück in Berlin. In Steve Bishops Installation in den KunstWerken hat sich der Nebel noch nicht gelichtet. Feuchtkalte Luft umhüllt die Pilzzucht, unscharf schimmern unter den klimaregulierenden Plastikplanen verschiedene Bilder und Objekte aus der verlassenen Stadt Kitsault hindurch. Dieselben Elemente, die das Wachstum des gedächtnisfördernden Löwenmähne-Pilzes garantieren, fungieren zugleich als Unschärfefilter. Milchig, dunstig werfen sie Fragen nach dem Ineinanderwirken der Pflege von Erinnerungen, Gegenständen, Orten und deren unweigerlichem Verschwimmen auf, das neue Realitäten hervorbringt. In der Future Gallery wurde die Pilzplantage mittlerweile aus dem Keller geräumt. Neue Arbeiten, die in den Zwischenraum von Technologie und Körperlichkeit springen, halten im Wechsel die Stellung. Der Spagat zwischen dem Fragment und dem Ganzen gelingt den mal forschenden, untersuchenden, dann wieder aushandelnden, ihre Thematik befragenden, beleuchtenden oder gar aktivierenden Werken mal mehr, mal weniger geschmeidig. Auch hier zeigt sich das poetische Feld zwischen Kunst und Wissenschaft noch als Baustelle, auf der mit Effekten und gern auch vielsagenden Begleittexten experimentiert wird.

Die Suche nach Möglichkeiten einer Rückbindung des Menschen an ein Ganzes aus Natur und Technik hat gerade erst begonnen. Wie die Kunst ihre eigenen Ausdrucksmöglichkeiten durch Auseinandersetzung mit den Gegenstandsbereichen und Methoden der Wissenschaft schärfen und erweitern kann, ohne das Interdisziplinäre als ein phantastisches Reiche des Sowohl-als-auch (oder Weder-Noch?) von Kunst und Wissenschaft zu bereisen, wird sich immer wieder neu beantworten müssen.

 

 

 

 

 

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Die Bücher:

Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt. Aus dem Französischen von Felix Kurz. Matthes & Seitz Berlin, 2018.

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Berlin, 2018.

Fotonachweis: Oskar Koliander: Intelligo (2017), Ausstellungsansicht in der Future Gallery, Berlin. Foto: Ellen Wagner.

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