Mark von Schlegells Venusia ist viel mehr als ein Trip zur Venus. Eine Rezension von Moritz Müller-Schwefe (*1990).
Die Venus ist ein sogenannter Wolkenplanet. Undurchschaubar – auch im 23. Jahrhundert: »Aus dem All konnte man die Bewegung hinter dem Wirbeln der ewigen Wolkendecke nicht wahrnehmen. Unter den Wolken falteten sich die Ozeane wie die Lappen eines gewaltigen Gehirns.« Immerhin ist die Venus in Zukunft bewohnbar. Die kleine Kolonie Venusia, Schauplatz von Mark von Schlegells gleichnamigem, rauschhaftem Roman- und Weltentrip, bietet einer kleinen, stetig schrumpfenden menschlichen Restpopulation Unterschlupf. Und der ist bitter nötig, denn die Erde ist inzwischen Geschichte: Doch man gewöhnt sich gegen alles. Unter der dichten Wolkendecke gehen die Menschen mit dem Sonnenaufgang den Geschäften ihres auch auf der Venus eigenartig geregelten Alltags nach. Morgendämmerung in Venusia: »Ratternd setzte sich ein mechanisches Räderwerk in Gang. Eigentümliche Büros, Geschäfte und Kulturstätten öffneten Fenster und Türen. Man sah Rauch aus den Schloten der Roboterfabriken quellen. Transportsysteme zündeten; Bewässerungsgräben gluckerten und sprudelten.«
Unter den Umtriebigen befinden sich auch die viereinhalb Hauptfiguren des Romans: Die Neuroskopin Sylvia Yang und ihre »fühlende Pflanze« FRED, der Antiquitätenhändler Rogers Collectibles, der kleinwüchsige Niftus Norrington und die Reporterin Martha Dobbs. Bis auf die Pflanze werden sie alle im Verlauf der Handlung zu Süchtigen, was im Venusia des 23. Jahrhunderts allerdings bedeutet, dass sie sich der Droge gerade entziehen, zu deren Konsum die Bevölkerung der Kolonie unter Strafandrohung verpflichtet ist. Mehrmals täglich müssen die Venusianer psychoaktives Blumenfleisch zu sich nehmen. Vergleichbar mit Huxley’s Soma aus der Brave New World hat das Futter eine beruhigende Wirkung, es wirkt außerdem, ganz Droge, leistungs- und konzentrationssteigernd. Der nicht unbeträchtliche Nebeneffekt: Die Auslöschung der eigenen Erinnerung. Ein Effekt, der dem »Princeps« der Kolonie, Jorx Crittendon, zu Gute kommt. Denn wer sich an bessere Zeiten auf der Venus nicht erinnert, der will so schnell an der Gegenwart nichts ändern. »Wer die Vergangenheit beherrscht«, so die Orwell’sche Parole, die von Schlegell nicht von ungefähr seinem Roman vorangestellt hat, »beherrscht die Zukunft: Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.«
Doch die vier Protagonisten sind auf Entzug. Nach und nach erhalten sie ihre Erinnerung zurück. Der blumenfleischlose Trip katapultiert Collectibles, Dobbs, Norrington und Yang in die Neuroscape, in ein gemeinsames Unterbewusstsein der Venusianer, bestehend aus diversen Dimensionen und Zeiten: Vergangenheiten und Zukünften. Die vier werden zu Reisenden zwischen Raum und Zeit. Sie tauchen ein in etwas, das an den eigenartigen finalen Wurmloch-Zustand aus Christopher Nolans Interstellar erinnert; sie befinden sich zwischen den Welten, zwischen Wirklich- und Unwirklichkeiten. Und das hat weitreichende Konsequenzen. Denn in der N-Scape erfahren die vier u. a. vom Gründungsmythos der Kolonie, vom ursprünglich freien Venusia, der besseren Alternative zur Erde. Doch erregen ihre Nachforschungen die Aufmerksamkeit des Princeps: Denn Crittendon durchstreift seinerseits das venusianische Unterbewusstsein, um eben jene Gründungsgeschichte zu vernichten; um sie aus der Erinnerung zu verbannen und damit seine Macht zu erhalten. Mitten zwischen den Welten entspinnt sich der klassische Kampf Gut gegen Böse.
Doch das eigentliche Zentrum des Ausflugs in die N-Scape, das eigentliche Zentrum dieses Romans bilden die zahllosen, surreal-spektakulären Bilder und Ideen von Schlegells. Je tiefer sich die vier Süchtigen in den Parallelwelten verlieren, desto öfter zündet das psychedelische Sci-Fi-Feuerwerk Venusias. Wer sich lineare Handlungen und Figurenentwicklungen wünscht, der ist hier falsch. Wer hingegen etwas über die – in der von Knausgård und Konsorten beherrschten Ichzeit scheinbar vergessenen – Möglichkeiten des fiktiven Erzählens erfahren will, mehr als richtig. Maschinenechsen, die lispelnd den Eingang ins kollektive Bewusstsein bewachen, sind da nur der Anfang. Auf über zweihundert atemberaubenden Seiten stellt von Schlegell die Vorstellungskraft seiner LeserInnen auf die Probe. Hologramme, Doppelgänger und mächtige »Zeckianer«, verstrahlte Wissenschaftler und mysteriöse Ur-Autoren, vergessene Gründer Venusias, haarige Tierkreuzungen, fühlende, weil empathiefähige Pflanzen. In schwebenden Buchläden, die »sich ums eigene Hinterteil« falten, Luftschlössern, traumhaften Schein- und stinkenden Scheißewelten im Körperinneren treffen Collectibles und Co. nicht nur auf ihren Gegenspieler Crittendon, sondern auch auf das irrwitzige Personal dieser vielgestaltigen Zwischenwelten. »Das Unglaubliche, das unwahrscheinlich Mögliche überformt die Wirklichkeit«, heißt es an einer Stelle des Romans treffend, »[u]nd Venusia hat das Ganze in die Wege geleitet«. Dass man als LeserIn angesichts dieser Wirklichkeitsüberformung die Wege und Chronologie der Handlung ab und an aus dem Blick verliert, tut dem Roman, der in dieser herausfordernden Vielschichtigkeit u. a. an Philip K. Dicks grandiosen Roman Die drei Stigmata des Palmer Eldritch denken lässt, keinen Abbruch. Die blaue oder die rote Pille: Wer sich einmal auf Venusias faszinierende Parallelwelten einlässt, findet zum Glück so schnell nicht mehr aus ihnen zurück.
Und das liegt mitunter auch an der beeindruckenden Breite des Romans des 1967 in New York geborenen von Schlegell. Stichwort Vielschichtigkeit. Denn in Venusia wird eben bei weitem nicht nur der klassische Good vs. Evil-Kampf ausgetragen. Hier wird ein Universum entworfen, in dem mehr verhandelt wird als Figurenschicksale. So wie Dicks Stigmata mischt dieser Roman mit ziemlicher Leichtigkeit auch die ganz allgemeinen, die großen Fragen in die Codes seiner Wechselwelten: Wie geht gesellschaftliches Zusammenleben, wenn die Erde nicht mehr – und der Neuanfang möglich ist? Wie geht Ökonomie in einer kleinen Kolonie auf der Venus? Woran glauben, wenn die Erde untergegangen ist? Und vor allem: Wie die Zukunft gestalten, wenn man in der Gegenwart gefangen ist? So wie wir in unserem 21. Jahrhundert – aus der Perspektive der Venusianer: »Gefangen in brachial marginalisierter, globaler Öko-Politik, Aug in Aug mit der moralischen Bankrotterklärung der Wissenschaft, konnten die Menschen die nötige Vorstellungskraft nicht aufbringen, um an Reisen zwischen verschiedenen Dimensionen, an atmosphärische Seltsamkeiten oder sprechende Pflanzen zu glauben.« Das Gegenmittel könnte Venusia heißen: Ein Buch gegen die Fantasielosigkeit unserer so oft realismusbesessenen Postmoderne. Blaue oder rote Pille: Es ist Zeit!
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Mark von Schlegell
Venusia
Übersetzt von Simon Elson
Matthes & Seitz Berlin, 2016
238 Seiten, 19,90 €
ISBN: 978-3-95757-144-1
Moritz Müller-Schwefe lebt in Berlin und Neapel. Seit 2013 ist er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift metamorphosen; seit 2015 Mitherausgeber der SuKuLTuR-Reihe Schöner Lesen.