Diskurs

Der große Ausbruchsplan

Wie viel Romantik steckt in Post-Internet-Art und Vaporwave? Ein meta-kritischer Versuch von Alexander J. Roth (*1983).

Unlängst hatte ich das Vergnügen, als Vortragender einem kunstwissenschaftlichen Symposium über die Gegenwart und Zukunft der Kunstkritik unter den Prämissen des Digitalen beizuwohnen. Im Rahmen dessen hatte ich mich eingehender mit einem Internetkulturphänomen namens Vaporwave beschäftigt, das seit circa 2011 über Portale wie Twitter, Tumblr, Soundcloud, Bandcamp oder YouTube Verbreitung findet.

Diese vor Selbstironie und vermeintlicher Warenaffinität nur so strotzenden Video-Clips, in denen sich Retro-Tech-Auskennertum, visuelle Japan-Folklore und Lo-fi-Muzak-Pop im Straßenmodus abklatschen, sind so etwas wie eine popkulturelle Ausformung dessen, was an anderer Stelle derzeit gerne als Post-Internet-Art begrifflich erfasst wird – ein nicht unproblematischer und kontrovers diskutierter Terminus, der kürzlich vor allem im Rezeptionskontext des New Yorker Kunstkollektivs DIS Diskurspopularität erlangte. Als bekannt wurde, dass DIS die Kuratorenschaft der 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst übernehmen würde, multiplizierte sich das Diskursrauschen weiter. Dabei fällt auf: Wenn in kunstkritischen Zusammenhängen von Post-Internet-Art die Rede ist, schwingt nicht selten ein paternalistischer Unterton mit, der deutlich macht, dass die Institution Kunstkritik dem Kunstrichtertum noch nicht lange, oder, noch lange nicht entwachsen ist (ähnlich restaurative Töne klangen im Übrigen auch in der Diskussionsrunde im Anschluss an meinen eingangs erwähnten Symposiumsvortrag an – das sei hier jedoch nur am Rande erwähnt). Nicht nur wird der Post-Internet-Art immer wieder ihre Kunsthaftigkeit abgesprochen – sie wird auch vielerorten als ein Phänomen des postkritischen Zeitalters verstanden; des Zeitalters einer Kunst, die sich im Zuge ihres Eingehens in die digitale Warenwelt ihrer kritischen Potenziale vollends entledigt hat und reine Affirmation des Bestehenden, sprich des omnipräsenten Techno-Kapitalismus geworden ist.

Foto der Performance »The Island« von DIS

Dis, The Island (KEN), 2015. Installation und Live-Performance in New York im Rahmen der New-Museum-Triennale, Foto: Heji Shin, © Dornbracht

Selbstaufgabe an die allgegenwärtige Warenlogik?

Andere, dem Phänomen positiv gesinntere Stimmen wiederum sehen die Schnelligkeit und Informiertheit, mit der die Post-Internet-Art Prozesse unserer kommunikationstechnologisch affizierten Konsumgesellschaft aufnimmt, reflektiert und künstlerisch verhandelt, als einen veritablen Akt der Kritik, ja vielleicht sogar als die letzte verbleibende Möglichkeit einer Reaktivierung kritischer und politischer Potenziale der Kunst an. In diesen Kontexten wird dann gerne der Akzelerationismus bemüht, ein Begriff der in seiner Popularität und Kontroversität dem der Post-Internet-Art in nichts nachsteht. Genau in der Mitte dieses Spannungsfeldes aus kritisch-akzelerationistischer Widerspenstigkeit und affirmativer Selbstaufgabe an die allgegenwärtige Warenlogik einer hyper-kapitalistischen Kulturindustrie ist nach dem Musikwissenschaftler und Musikjournalisten Adam Harper nun auch das Vaporwave-Genre zu verorten; so schreibt er in einem Aufsatz, der für die Zeitschrift Jungle World ins Deutsche übersetzt wurde, treffend unentschlossen: »Kritik oder Kapitulation? Beides und keines von beidem.« Harper scheint zu schwanken, ob man Vaporwave-Künstlerinnen und -künstler wie Fatima Al Qadiri, James Ferraro, Gatekeeper, Internet Club oder New Dreams Ltd. nun als kritische Revolutionäre, die in akzelerationistischer Manier die Überwindung des Kapitalismus vorantreiben oder vielmehr als »willige Unterstützer« ebenjenes Systems verstehen kann, die Ironie mit Kritik verwechseln und in vorauseilendem Gehorsam mit der Kunst auch noch die letzte Bastion der Kritik dem kapitalistischen Geschäft übergeben. Wenn Harper dann die vermeintlichen Alternativen aufzeigt und offen lässt, ob man Vaporwave nun »als ironisch, satirisch oder tatsächlich akzelerationistisch auffassen« darf, zeigt seine ansonsten erhellende Analyse meines Erachtens eine Schwäche: Harper entgeht, dass im Vaporwave-Genre – und diesbezüglich verstehe ich es als paradigmatisches Post-Internet-Art-Phänomen – Ironie und Kritik keine Kontra-Positionen einnehmen, sondern sich gegenseitig bedingen; ein Moment, das nicht zufällig auch für das Kunstverständnis der Romantik konstitutiv ist.

Das Prinzip der Ironie in der Romatik

»Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.«[1]

Die Protagonistinnen und Protagonisten der deutschen Romantik, und allen voran Friedrich Schlegel, aus dessen Lyceums-Fragmenten das obige Zitat stammt, umarmten die Ironie, kürten sie zu einem der wichtigsten philosophischen Prinzipien ihrer Bewegung. Jedoch ist beim Begriff der Ironie Vorsicht geboten: Es gibt ein landläufiges Interpretationsnarrativ, das besagt, dass Künstlerinnen und Künstler ironische Verfahren als Strategie anwenden, um sich von ihren Kunstwerken zu distanzieren. Ironie als künstlerische Distanznahme und Brechung? Ja, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Was die Besonderheit der Ironie im Ästhetischen, und zugleich ihre Relevanz für die Kunstkritik ausmacht, kommt in der romantischen Theorie der Ironie am deutlichsten zum Ausdruck. Einer der profiliertesten Versuche, diese Spezifik philosophisch zu erfassen, ist Walter Benjamins Dissertationsschrift Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, die 1920 als erste Buchveröffentlichung Benjamins erschien. Wer bei Benjamin nachliest, wird schnell feststellen, dass in der Romantik Kunst, Kritik und Ironie in einem untrennbaren, sozusagen triadischen Beziehungsverhältnis stehen. Für Benjamin zeigt sich das kritische Wesen der Kunst im Sinne der romantischen Ästhetik vor allem in ihrer Tendenz zur Selbstreflexion, die hier immer zugleich als mediale Reflexion verstanden wird:

»Die Erkenntnis in dem Reflexionsmedium der Kunst ist die Aufgabe der Kunstkritik. […] Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis; sofern sie es beurteilt, geschieht es in dessen Selbstbeurteilung.«[2]

Diese Passage beinhaltet nicht weniger als das Argument zu einer potenziellen Abschaffung der institutionellen Kunstkritik, die, so verstehe ich Benjamin, im Sinne der Romantik nicht mehr als eine von der Kunst getrennte Instanz verstanden werden soll. Kunstkritik wird zur Kompetenz der Kunst selbst. Oder anders gefasst: Kunst wird im Zuge ihres Selbstreflexivwerdens zu einem Medium der Kunstkritik. Doch wie vollzieht sich dieser Selbstermächtigungsvorgang? Zunächst durch das oben erwähnte Prinzip der Brechung; die/der Kunstproduzierende stellt sich selbst als Künstlerin/Künstler und ihr/sein Kunstwerk als Künstlerisches in Frage; dies geschieht im romantischen Kunstwerk (als das Schlegel paradigmatisch die Poesie betrachtet) primär über Elemente des Witzes, des Humoristischen. Doch hinter diesem Moment des scheinbar Lachhaften steckt tatsächlich eine höhere philosophische Absicht: Dadurch, dass das Kunstwerk sich unerlässlich zur Selbstreflexion, die, wie sich aus dem Vorherigen erschlossen hat, in erster Linie eine kunstkritische Reflexion ist, hinbewegt, bleibt das Werk ein ewig offenes, unabgeschlossenes, fragmentarisches. Dies ist zugleich die Paradoxie der romantischen Ästhetik, dies meint Schlegels Prinzip der progressiven Universalpoesie: Was einerseits eine Selbstschwächung oder sogar Selbstvernichtung bedeuten kann – und nichts weniger droht ja durch das ständige Infragestellen der eigenen Kunsthaftigkeit – kann andererseits Kunst ein neues, ungeheures Potenzial verleihen: Kunst muss nicht mehr nur Kunst sein, Kunst kann alles sein, was Kunst sein möchte: Kritik, Wissenschaft, Philosophie, Geschichte.

Neo-Romantik statt Territorial Pissings

In letzter Konsequenz ist dieses romantische Prinzip einer selbstbewussten, disziplinen- und registerübergreifenden, im kritischen Sinne ironischen Kunst auch das Konzept der Post-Internet-Art, und insbesondere des Mikro-Genres Vaporwave. Nach einigen Klicks durch das reichhaltige Reservoire an Vaporwave-Videos im Internet wird deutlich, dass die Künstlerinnen und Künstler dieser Bewegung – ob bewusst oder nicht – Kunst von einem romantischen Standpunkt aus denken; in ihren von Ironie und Witz durchbrochenen Video-Clips treten sie nicht selten zugleich auch als selbstreflexive Kritikerinnen und Kritiker oder Historikerinnen und Historiker der eigenen Bewegung auf:

Bezeichnend dabei ist, dass sowohl der Autor des How To Make Vaporwave-Videos als auch der Produzent der folgenden Vaporwave-History ihrerseits selbst aktive Vaporwave-Künstler sind.

Mit etwas spekulativer Chuzpe und mit etwas mehr zeitlichem Abstand zum Phänomen wäre ich geneigt zu sagen, dass Schlegel solche gegenwärtige Phänomene der Post-Internet-Art wie Vaporwave oder DIS mit gesteigerter Aufmerksamkeit verfolgt hätte. Er hätte womöglich Potenziale gewittert, den großen Ausbruchsplan der Kunst, den die Romantik vorbereitete und der dann von späteren Kunstbewegungen wie beispielsweise dem Dadaismus weitergesponnen wurde, schlussendlich zu realisieren. Wenn die Post-Internet-Art von der Romantik lernt, wenn sie vielleicht selbst zu so etwas wie einer im philosophischen Sinne neo-romantischen Kunst wird, hat sie die Chance, emanzipatorische Ideen zu entwickeln – Ideen, die institutionellen, an Deutungshoheit respektive Machterhalt interessierten Vertretern der oben erwähnten Kunstfachdisziplinen schon zu Zeiten der Romantik suspekt sein mussten und ihnen auch noch heute Unbehagen bereiten. Unverblümt ausgedrückt:

Die Territorial Pissings der kunstrichtenden Institutionen riechen nach Angst.

Betrachtet man die Debatte aus einer meta-kritischen Perspektive, wird eines evident: Die Diskussion darüber, ob die Post-Internet-Art nun kritisch-akzelerationistisch oder affirmativ-hedonistisch, ja ob sie überhaupt Kunst sei, ist in Wirklichkeit gar nicht die Frage, die für das Phänomen entscheidend ist. Sie überdeckt die kunstinstitutionelle Frage, die zugleich eine zutiefst politische ist: Was ist die Zukunft des Denkens, Schreibens und Urteilens über Kunst? Wer darf wie und wo respektive in welcher medialer Erscheinungsform darüber nachdenken und Entscheidungen darüber treffen, was Kunst ist und was aus dem Kreis des Künstlerischen auszuschließen ist? Es wird dies wohl eine auf ewig offene Frage bleiben. 1:0 für die progressive Universalpoesie.

 

 

 

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[1] Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg.v. H. Eichner, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Fehler u.a., 2. Abt., 2. Bd., München/Paderborn/Wien 1967, S.153 (Lyceum 48)

[2] Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Gesammelte Schriften. Bd. 1/1, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S.65f.

Alexander J. Roth, *1983 in Aschaffenburg. Studium der Philosophie und Germanistik in Würzburg, München und Berlin. 2010 M.A. an der Universität München mit einer literaturwissenschaftlichen Magisterarbeit. Seitdem Tätigkeiten als freier Autor und Kulturpublizist, Musiker, Lehrer und Dozent. Seine Texte erschienen in Buchpublikationen, Kunstzeitschriften sowie auf dem von ihm betriebenen essayistischen Blog Tausend Ebenen. Labor für experimentelle Kulturpublizistik

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