Neue Clans, alte Konflikte. Und: Wo kommen plötzlich die ganzen Tribals her? Band 03 der Reihe unendlich unwahrscheinlich ist ein Essay des Künstlers Leon Leube, der um das berühmte Zitat von William Gibson kreist: »Die Zukunft ist längst hier – sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt.« LÜCKE präsentiert das erste Kapitel von Every state has a hole als Leseprobe (übersetzt von Michael Watzka).
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Ich weiß, ich hatte dir schon geschrieben und du hast nicht geantwortet, aber ich würde jetzt gerne nochmal nachfragen, weil ich glaube, dass du ein paar interessante Antworten hast. Ich habe mich gefragt, ob du mir vielleicht bei etwas helfen könntest, dem ich gerade nachgehe. In letzter Zeit habe ich ziemlich viele Tribal-Tattoo-Designs in Kunstwerken gesehen, online und offline. Diese scharfkantigen, schmiegsamen und slicken Motive fließen in eine ganze Menge von Bildern oder Skulpturen ein, und ich würde gerne wissen, warum genau diese Art von Design wieder so dominant geworden ist. Ziemlich verrückt, wie viele Posts man (hauptsächlich auf Instagram) allein von Tribals finden kann, die auf Motorrädern und Kleidung prangen, oder auf der Haut sonderbarer 3D-Charaktere und auf der Oberfläche von Objekten schimmern, die aus Metall und Plexiglas gefertigt sind; man findet Tribals eigentlich überall: in schäbigen Drachen-Aufklebern, bei Sensenmann-Arschgeweihen und auf Vin Diesel. Irgendwelche schnell hergegoogelten Tattoo-Designs, noch nicht mal selbstentworfen.
Tribal-Tattoos haben eine lange und komplexe Geschichte, mal abgesehen davon, dass sie im Allgemeinen wohl als die banalsten und absolut billigsten Designs gelten, die gerade zu haben sind. Nichts schreit mehr nach Volldepp-Limp-Bizkit-Fan als ein verschlungenes Tribal auf der Brust (Sag Bro, von welchem Stamm bist du?). Was soll das alles? Wie konnte es zu dieser überfallartigen Wiederaneignung kommen? Ich war gleichzeitig vollkommen verwirrt und total fasziniert davon. Es war so seltsam, wie die Tribal-Designs mittlerweile verwendet wurden, zwar immer noch kitschig und abgedroschen, aber andererseits auch großartig, und es schien auch überhaupt keine Diskussion oder so über all das stattzufinden, sie waren einfach nur da. Und weißt du was? Sie sahen unglaublich aus!
Warum werden diese Designs von so vielen gehijackt und dann wie beiläufig in den eigenen künstlerischen Output integriert? Ich will versuchen, hinter das Phänomen zu kommen, ohne mich auf vorschnelle Schlussfolgerungen zu stürzen, die auf die Wiederbelebung von irgendetwas Ursprünglichem oder das simple Wiederkehren von Trends hinauslaufen. Das wäre als Erklärung unbefriedigend. Trends kommen und gehen, das wissen wir alle. Aber es fühlt sich für mich so an, als würde sich hier noch etwas anderes unter der Oberfläche verbergen, etwas Befremdlicheres. Könnte die Wiederverwertung von Tribals ein verändertes Verständnis dieser Designs implizieren? Wenn man bedenkt, wie lange es Tribals schon gibt, warum sind sie dann auf einmal wieder so relevant geworden, was die Produktion von Kunst und Design angeht? Gibt es da vielleicht noch einen anderen Einfluss, der mehr ins Metaphysische geht?
Tribals tauchen heute üblicherweise in der Technologie auf, meistens rekurrieren sie auf einen geschwindigkeitsvernarrten und irgendwie coolen Design-Gesichtspunkt; von Stickern auf Motorrädern, Autos und Flugzeugen bis hin zum Industriedesign und dem damit verbundenen Grafikdesign im Marketingbereich von Videospiel-Equipment, um mal ein paar Beispiele zu nennen. Mir sind sie hauptsächlich online begegnet, wie du dir sicher vorstellen kannst. Meinst du dieser Technikbezug beeinflusst die Art und Weise, wie sie gelesen und verwendet werden? Ich persönlich glaube, dass hier vieles zusammenkommt – sicherlich ist in Tribals der Ausdruck von Macht und Magie wichtig, aber auch die Demonstration von Souveränität, Zukunftsglaube und Kriegsführung. Und irgendwie auch die Ungleichheit, von der das alles umgeben ist und die alles durchdringt.
Hat es vielleicht sogar mit dem derzeitigen politischen, sozioökonomischen, technologischen usw. usf. Klima zu tun, dass Tribals auf uns so reizvoll wirken? Oder ist hier eine unsichtbare und unbemerkte Kraft am Werk? Gerade fühlt es sich so an, als befänden wir uns inmitten einer ganzen Reihe von Katastrophen und umstürzlerischen Krisen, ohne dass ein Ende absehbar wäre, ganz so, als wäre die Zukunft irgendwie gecancelt worden. Oft wünschen wir uns ja, dass sich unsere Zukunft wie eine literarische Erzählung vor uns entfaltet – was sie für gewöhnlich nicht tut. Die Zukunft existiert schon, aber für manche von uns scheint sie sich nie einzustellen, ihre Ankunft wird stets vertagt und weiter aufgeschoben. Könnte diese ungleiche Verteilung der Zukunft selbst ein Zustand der Krise sein, und könnte dieser Zustand unausgesetzt andauern, ohne dass es überhaupt eine tatsächliche Katastrophe in der realen Welt gibt? Nutzen wir die Tribals als kulturelles Equipment, das uns hilft, mit den verheerenden Verschiebungen umzugehen, die uns in unserem Alltag begegnen?
Würde mich sehr interessieren, was du dazu denkst – Danke im Voraus – Leon
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Die Reihe unendlich unwahrscheinlich erscheint anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Instituts für moderne Kunst Nürnberg.
unendlich unwahrscheinlich Nummer 03: Every state has a hole (dt./e.)
ein SuKuLTuR-Produkt
ISBN: 978-3-95566-072-7
Bestellbar unter info@moderne-kunst.org
(4,– Euro inklusive Versand.)
Leon Leube,
geboren 1992 in Nürnberg. Nachdem er hauptsächlich auf den Philippinen lebte, studiert er seit 2012 an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg in der Klasse von Professor Michael Stevenson.